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X. JungslavistInnen-Treffen 2001 in Berlin

Linguistische Beiträge zur Slavistik. X. JungslavistInnen-Treffen Berlin 2001. Hg. Robert Hammel und Ljudmila Geist. München: Sagner 2003 (= Specimina Philologiae Slavicae 139). 247 Seiten. ISBN 3-87690-856-6.

Name Titel Seite
Ljudmila Geist und Robert Hammel Vorwort 5
Tanja Anstatt Die Behandlung des Verbalaspekts in russischen Wörterbüchern 7–37
Horst Dippong Fragmente einer deskriptiv-quantitativen Oberflächen-Syntax des Russischen (3): Die Satzgliedfolge im Elementarssatz 38–57
Ursula Doleschal und Edgar Hoffmann Qualität. Marktwirtschaftliche Schlüsselkonzepte zwischen Globalisierung und Diffusion. Dargestellt am Beispiel des Russischen 58–100
Uwe Junghanns Ferne Objekte [Vortrag von jusla-5] 101–123
Holger Kuße Metaphorisch Argumentieren: Der Fall Pavel Florenskij 124–145
Anke Levin-Steinmann Zum Schicksal des slawischen Plusquamperfekts 146–173
Imke Mendoza "Pragmatische Begründungen" im Polnischen 174–191
Roland Meyer Halbautomatische morphosyntaktische Annotation russischer Texte 192–205
Andreas Späth Zur Grammatik des Negationsgenitivs im Russischen 206–222
Katrin Unrath-Scharpenack Schweigen - einige religionsgeschichtliche Bemerkungen zu einem kommunikativen Phänomen 223–245

Tagungsbericht von Ljudmila Geist und Robert Hammel

Am 25. und 26. Mai 2001 fand am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin das X. JungslavistInnentreffen statt, an dem dreizehn Nachwuchssprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ihre Forschungsprojekte aus den verschiedensten Bereichen der slavischen Linguistik vorstellten. Die Referate behandelten so unterschiedliche Themen wie Aspektologie, Syntaxtheorie oder Verbalmorphologie, aber auch Metaphern und kulturhistorische Fragestellungen.

Roland Meyer (Tübingen) gab in seinem Beitrag »Halbautomatische morphosyntaktische Annotation russischer Texte« einen Einblick in die Arbeitsschritte bei der computergestützten Erstellung eines umfangreichen, nach morphosyntaktischen Kategorien absuchbaren russischen Korpus, wie sie im Rahmen des Tübinger SFB 441 »Linguistische Datenstrukturen« unternommen worden ist. Im Mittelpunkt des Tübinger Forschungsprojektes stehe 1. die Programmierung eines automatischen Analysierers/Synthetisierers für russische Flexionsformen und die Erzeugung eines Formenlexikons, 2. der Entwurf eines geeigneten Annotationsschemas (sog. »tagset«) sowie 3. eine kritische Bewertung der Resultate der automatischen Disambiguierung. Insbesondere die Schritte 2 und 3 sollten – so die These des Referenten – auch für künftige Nutzer des Korpus transparent gemacht werden, damit sie die Verlässlichkeit ihrer Suchergebnisse und auch evtl. Probleme bei der Korpusrecherche richtig einschätzen könnten.

Der Vortrag von Tanja Anstatt (Tübingen) hatte »Aspektpartner in russischen Wörterbüchern« zum Gegenstand, wobei sie eine Reihe von einsprachigen sowie einige Verbwörterbücher einbezog. Thema waren einerseits allgemeine Fragen der Aspektbehandlung (welcher Partner wird lemmatisiert, welche Erklärungen geben die Wörterbücher in den Benutzungshinweisen zu aspektuellen Fragen etc.), andererseits der exemplarische Vergleich einiger ausgewählter Verben (dabei ging es um Simplizia und die Zuweisung von präfigierten Partnern). Als Fazit konnte festgehalten werden, dass die Partnerzuweisung in diesen Verbgruppen nicht nur divergierend, sondern auch innerhalb eines Werkes inkonsistent behandelt wird, generell zu wenig Erläuterungen geboten und Erkenntnisse der Aspektologie nur in Einzelfällen berücksichtigt werden.

Mit Fragen der Tempusbildung im Slavischen beschäftigten sich die Beiträge von Anke Levin-Steinmann und Uwe Junghanns (beide Leipzig). In ihrem Vortrag zum slavischen Plusquamperfekt gab Levin-Steinmann zunächst einen Gesamtüberblick über die in den verschiedenen Slavinen existierenden Tempora mit der Bedeutung der Vorzeitigkeit bzw. der »entfernten Vergangenheit«, um dann ausführlicher auf die bulgarische Periphrase mit бил und l-Partizip sowie schließlich auf die Frage einzugehen, ob die russische Partikel было von einem mit Hilfe einer solchen Periphrase gebildeten Tempus abgeleitet werden könne. Junghanns befasste sich in seinem Beitrag »Probleme mit der Zukunft« mit ukrainischen Ausdrücken der Form Infinitiv + Futurmarker (FM; vgl. читатиму, читатимеш etc.). Er analysiert den FM als ein Verb, das mit dem Infinitiv einen Verbkomplex bildet. Diese Analyse habe u. a. den Vorteil, dass der Infinitiv nicht als besonderer Stamm angesehen werden müsse und dass die relative Ordnung von FM und -ся (vgl. митимуся) eine Erklärung auf Grund der syntaktischen Struktur erhalte. Berücksichtigt wurden in dem Vortrag auch die Diachronie sowie Daten aus anderen Sprachen.

Zu den russischen Adjektiven führte der Beitrag von Ljudmila Geist (Berlin) mit dem Titel »Überlegungen zu den Kurz- und Langformen russischer Adjektive«, der eine neuartige Deutung des Unterschiedes zwischen Kurz- und Langformen der prädikativen Adjektive im Russischen (vgl. Нина добра vs. Нина добрая) vorschlug. Geist argumentiert, dass die Unterschiede zwischen beiden Formen nicht, wie bislang häufig angenommen, stilistischer, sondern eher grammatischer Natur sind: Es handele sich um unterschiedliche Ausprägungen der Wortart »Adjektiv«, nämlich um eine verbartige bei den Kurzformen und eine nomenartige bei den Langformen.

Horst Dippong (Hamburg) spannte den Bogen zur Syntax, indem er einen weiteren Teilbereich seiner sog. »deskriptiv-quantitativen Oberflächensyntax des Russischen« vorstellte. Das Ergebnis der empirischen Analyse der Satzgliedfolge im Elementarsatz untermauerte den Eindruck, dass das moderne Russisch in seiner schriftlichen Variante eine ausgesprochen »aufgeräumte« Sprache darstelle, in der so gut wie keine Extrapositionen und andere Erscheinungen aufträten, die Zusammengehöriges trennen könnten. Beim Vergleich zwischen Belletristik und moderner Sachprosa lasse letztere ein hohes Maß an Uniforrmität und eingeschränkter Variabilität erkennen.

Mit dem tschechisch-deutschen Sprachvergleich beschäftigte sich der Beitrag »Natürlichsprachliche Negation als Präsuppositionsauslöser« von Andreas Späth (Leipzig), der auf spezifische Mechanismen der Negation im Tschechischen einging und Lesarten von Sätzen und Nominalphrasen dem Deutschen gegenüberstellte. Dabei wurde auf die Interaktion prosodischer und syntaktischer Faktoren mit der kompositional-semantischen Repräsentation von Sätzen hingewiesen.

Imke Mendoza (München) untersuchte in ihrem Vortrag »Die Markierung von Begründungen und Zurückweisungen im Polnischen« die Kausalkonnektoren bo, ponieważ und skoro sowie (al)bo, ale und ależ als Marker für Zurückweisungen. Sie zeigte, dass sich die Kausalkonnektoren lediglich hinsichtlich des kommunikativen Status des durch sie eingeleiteten Teilsatzes unterscheiden (bo ‘nicht gegeben’, ponieważ ‘gegeben’ in Initialposition, aber ‘nicht gegeben’ in Postposition, skoro ‘gegeben’), und dass alle Restriktionen hinsichtlich ihrer Diskursfunktionen auf die unterschiedliche Ausprägung dieses Merkmals zurückzuführen sind. Die Unterschiede bei den Zurückweisungsmarkern sind Men-doza zufolge tiefgreifender: albo leite eine rhetorische Frage ein, die eine Glückensbedingung der Äußerung des Gesprächspartners zurückweise, während eine mit ależ eingeleitete Äußerung ein Wissensmodell präsentiere, das sich von dem des Gesprächspartners unterscheide und über welches dieser nach Meinung des Gesprächspartners bereits verfügen müsse. Eine mit ale, primär einem Marker für Widerspruch, eingeleitete Äußerung schließlich könne nur in einem entsprechenden Kontext als Zurückweisung funktionieren.

Der Vortrag »Anmerkungen zu den Funktionswörtern« von Robert Hammel (Berlin) ging von der Beobachtung aus, dass in spontaner Rede Stockungen des Redeflusses häufig nach Präpositionen, Konjunktionen, Artikeln und anderen Wortformen auftreten, die üblicherweise zu einer als Funktionswörter bezeichneten Klasse zusammengefasst werden. Hammel stellte einige zeitgenössische Definitionen von Funktionswörtern vor und wies darauf hin, dass sich diese mit der bereits bei Miklosich anzutreffenden Klasse der sog. »Partikeln« decken, die alle nichtflektierbaren Wortarten beinhaltet.

Die Metapher stand im Mittelpunkt des Beitrages »Metaphorisch Argumentieren: Der Fall Pavel Florenskij« von Holger Kuße (Frankfurt am Main), der an einen anlässlich des IX. Jungslavistlnnentreffens gehaltenen Vortrag von Thomas Daiber (Halle) anknüpfte und dessen Beitrag um Überlegungen zur argumentativen Funktion von Metaphern erweiterte. Metaphern treten nach Ansicht Kußes in komplexen Argumentationshandlungen als Proportionalitätsanalogien mit Argumentstatus auf. Der zweite Teil des Beitrags war der metaphorischen Argumentation in Werken Pavel Florenskijs (1882–1937) gewidmet. In kulturwissenschaftlicher Perspektive wurden u. a. Analogien der an Vorbildern aus der religiösen Mystik orientierten argumentativen Metaphorik Florenskijs zur literarischen und künstlerischen Avantgarde der 10-er und 20-er Jahre und zur Postmoderne aufgezeigt.

Mit dem in ihrem Beitrag »Schweigen – einige religionsgeschichtliche Bemerkungen zu einem kommunikativen Phänomen« vorgestellten Überblick über die Geschichte des kultisch-religiösen Schweigens von der Antike bis zur Gegenwart möchte Katrin Unrath-Scharpenack (Frankfurt am Main) eine der Grundlagen für die Beschreibung des kultur-historischen Hintergrundes des Phänomens Schweigen schaffen, vor dem, wie sie betont, sowohl die Ambiguität und Vagheit als auch die kommunikative Funktion des Schweigens in der modernen russischen Alltagsrede anschaulich und erklärbar werden.

Die Ideologie des Marktes, die mit all ihren Implikationen (z. B. Konzepten) im Laufe der vergangenen 10–15 Jahre die Vorstellungs- und Wertesysteme der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas in ihren Grundfesten erschüttert hat, regte Ursula Doleschal und Edgar Hoffmann aus Wien zu ihrem gemeinsam gehaltenen Vortrag »Qualität als marktwirtschaftliches Schlüsselkonzept« an. Die beiden Referenten wiesen darauf hin, dass diese Ideologie auf allen Ebenen des öffentlichen Diskurses ihren Niederschlag finde, und näherten sich der Problematik der Diffusion marktwirtschaftlicher Konzepte in den öffentlichen und Alltagsdiskursen aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik. Eine Möglichkeit der Untersuchung kultureller Schlüsselkonzepte bietet nach Ansicht der Referenten die Theorie der »konzeptuellen Metaphern« (vgl. G. Lakoff; M. Johnson, Metaphors we live by, Chicago 1980), die sie für eine Analyse des Konzeptes »Qualität« im Russischen nutzbar zu machen versuchten. Dabei zeigte sich nach Doleschal und Hoffmann, dass sich die entsprechenden Metaphorisierungen weder diachronisch (sowjetisch vs. postsowjetisch) noch diatopisch, also etwa im Vergleich zum Deutschen, wesentlich unterscheiden.

Wie in den vergangenen Jahren sollen die Vorträge in einem Sammelband veröffentlicht werden. Tagungsberichte zum VIII. und IX. Treffen finden sich in ZfSl 45 (2000) 2, S. 234–237 und ZfSl 46 (2001) 2, S. 221–223, die Inhaltsverzeichnisse der bisher erschienenen Bände können unter http://www.uni-tuebingen.de/uni/nss/jungslav/domstran.html eingesehen werden.

Zeitschrift für Slawistik 47 (2002) 1, 101–103

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